Über alle Berge – Mein Vollwaschgang auf den Alpen

Der zweite Tag begann mit den Schmerzen von gestern (plus ein paar Muskelbeschwerden), einem ordentlichen Frühstück und tief hängenden Wolken, die mich auch gleich ins Regenoutfit zwangen. Doch schon nach den ersten zwei Kilometern landete die Jacke wieder im Rucksack, da es langsam und entgegen aller Wettervorhersagen ein richtig schöner Tag zu werden schien. Statt des vorgesehenen Busses nach Jenbach nahm ich einen ausgeschriebenen Wanderpfad, um zu schauen was mein Körper noch/wieder hergibt. Dankenswerterweise hatte sich über Nacht das Meiste regeneriert, sodass es nach der Aufwärmphase keine größeren Probleme mehr gab. Der Wanderweg führte über einen Kreuzweg mitten in einem steilen Wald ins Inntal hinab, wo in Jenbach eine Zugfahrt mit der urigen Zillertalbahn anstand. Diese führte ins benachbarte Zillertal (wer hätte es gedacht?) und nach Fügen, von wo es (Schande!) mit der Gondel auf das Spieljoch in 1860m Höhe ging. Hier wartete ein schöner Höhenweg, der teils über Gipfelgrate, teils über Geröllfelder und teils an steilen Hängen entlang in den bekannten Skiort Hochfügen führte. Hier oben waren etliche andere Wanderer unterwegs, die allerdings auf den teilweise nur stiefelbreiten Pfaden ein Hindernis zum Überholen bildeten – und man will ja nicht mit Fleiß in die wie ein Teppich wachsenden Blaubeerbüschel treten.

Kurz vor dem Abstieg schlug weithin sichtbar das Wetter um, sodass der Weg ins Tal bei leichtem Regen etwas unschön wurde. Doch sobald die Talsohle erreicht war, hörte der Regen auf und die Sonne kam zum Trocknen heraus. Auf einer vergessenen Bank vor einem Skilift konnte ich in der nun angenehmen Sonne gemütlich eine Kleinigkeit essen und überlegen: Wieder war mittags das Tagesziel erreicht, die Beine noch frisch und das Wetter wieder beständig genug – also ab auf die zweite Etappe, die ins Hochgebirge führen sollte. Stets entlang am Finsingbach ging es wieder in eine steile Schlucht, die einem mehrmals fast automatisch die Melodie aus den „Herr der Ringe“-Filmen in die Ohren spielte. Einsame Almen, wilde Bäche und schroffe Felsformationen bildeten hier eine beeindruckende Kulisse. Fast am Ende des Tales musste auf einer „Brücke“ aus aneinandergelegten Felsblöcken der Bach überquert werden, bevor es auf das Sidanjoch mit über 2100m ging. Von hier war die andere Seite des Höhenzuges zu sehen, die in einiger Entfernung bereits im Regen lag. Starkem Regen, denn in der Ferne sah man nichts als eine schwarze Wand. Auf dem vor mir liegenden Weg zogen weiße Wolkenfetzen in rasanter Geschwindigkeit den Berghang hinauf und hüllten mich immer stärker ein. Die Rastkogelhütte, ein vorletzter Halt, war schon leer und verlassen, und der einzige menschliche Kontakt der letzten drei und nächsten zwei Stunden bestand aus einem Wanderer, der wie ein Geist an einem Tümpel aus dem Nebel auftauchte.

Ausgerechnet auf dem höchsten Punkt der ganzen Wanderung, 2290 Meter über dem Meer, fing der erwartete Schauer an. Dank genügend Übung hatte ich innerhalb von nichtmal einer Minute die Regenkleidung an und fühlte mich gut gerüstet. Erst einige Tropfen, dann immer stärker werdender Regen fegte nun mit heftigem Wind über den Gipfelgrat und duschte mich in kürzester Zeit trotz aller Schutzschichten bis auf die Haut nass. Eine kleine Hochebene verwandelte sich so in eine Sumpflandschaft, die Felsen in rutschige Hindernisse und die ausgetretenen Laufwege in kleine Bäche, die das Wandern in Canyoning änderten. Fast eine Stunde ging es im Vollwaschgang über drei Berggipfel, dann hatte der Himmel genug und ich erreichte das zweite Tagesziel, die Melchboden-Alm. Von hier sollte laut Plan „am Nachmittag“ ein Bus ins Tal führen. Vorsorglich musterte ich bereits die Hütte, aber diese war so gebaut, dass man nirgends ein schützendes Dach zum Schlafen gehabt hätte. Der Fahrplan hielt die befürchtete Enttäuschung bereit: der letzte Bus war um 16:30 Uhr gefahren, der erste in der Früh sollte um 10 Uhr vormittags gehen. Nun hatte ich zwei Optionen: durchnässt und bereits leicht unterkühlt hier irgendwo einen einigermaßen geschützten Fleck finden und im Schlafsack die Nacht überdauern, oder eine 18km lange Höhenstraße über 1400hm bergab gehen, um dann gegen 22 Uhr in Mayrhofen zu versuchen, einen Schlafplatz zu ergattern.

Oder… der Fahrplan listete noch eine letzte Fahrt auf, um 18:05 Uhr von der Möslalm, 20 Minuten Fahrzeit von der jetzigen Station. Neben dem Geländer der Haltestelle stand auch gleich ein Schild für den Wanderweg zur Möslalm, das 1 1/4 Stunden ankündigte. Ein Blick auf die Uhr: 17:23 … ohne noch eine Sekunde fürs Nachdenken zu verschwenden, drehte ich mich zur Seite und rannte den Wanderweg hinab. Während ich den steilen Hügel hinabsprang und von Stein zu Stein hüpfte, meldeten sich in meinem Kopf zwei Stimmen, von denen die eine fragte, ob ich komplett wahnsinnig sei, während die andere entgegenhielt, dass ich am Preikestolen in Norwegen schon einmal einen Weg in der Hälfte der Zeit gerannt war. Dieser Krieg sollte sich noch eine Zeitlang fortsetzen, während die wertvolle Zeit immer mehr zur Neige ging. Um 17:45 Uhr kam ich von dem abenteuerlichen Steig auf eine Teerstraße, wo ein weiterer Wegweiser 40 Minuten zeigte. Das wird eine verdammt knappe Kiste… mit dem Mut der Verzweiflung joggte ich in schnellem Tempo die Straße entlang, stets ignorierend dass ich einen schweren Rucksack auf dem Rücken und bereits etwa 35km durchs Hochgebirge in den Beinen hatte. Nun sollte sich das Joggen mit 20kg-Gewichtsweste endlich auszahlen! Während 18 Uhr durchlief hoffte ich in jeder Kehre, die Alm zu sehen, aber der Wald wollte und wollte nicht enden. Endlich, um 18:03 Uhr, lichtete sich der Wald und in einiger Entfernung wurde eine Gondelstation sichtbar, die „Mösllift“ in großen Buchstaben trug. Da muss es sein… die Straße machte davor noch eine weite Kehre, also sprang ich über einen Stacheldrahtzaun in eine Wiese, rannte noch einmal durch das hochstehende Gras und stand tatsächlich um 18:05 Uhr an der Station. Nur ein Bus war nirgends zu sehen. Die ganze Anstrengung kann doch nicht umsonst gewesen sein!

Völlig fertig trottete ich ein paar Meter hoch zu einem Gasthaus, das aber einen anderen Namen trug, und beschloss, erstmal an der Station etwas Kraft zu tanken. Kaum hatte ich mich hingesetzt und die nun von beiden Seiten nasse Regenjacke ausgezogen, da kam von der Seite her ein Bus angefahren. Der Fahrer war schlicht und einfach etwas später losgefahren; die Busstation lag etwas versteckt hinterhalb des Lifts. Als einziger Fahrgast kam ich mit dem Fahrer ins Reden, der mich im lokalen Dialekt als in etwa so verrückt bezeichnete, wie ich mich gerade fühlte. Immer noch verwundert über die Leistung, aber auch erschöpft ging es nun zurück ins Tal, wo ich nach einer weiteren kleinen Odyssee ein hübsches Zweitbettapartment in Mayrhofen fand. Ich hatte etwas Hemmungen, das perfekt geputzte Zimmer zu betreten, da ich vom Lauf durch die Wiese bis zu den Knien mit Schlamm, Grashalmen und Grassamen verdreckt war und meine Stiefel bei jedem Schritt eine kleine Pfütze Wasser herauspressten – aber „häifft ´a nix“. Vor dem Duschen stellte ich fest, dass sich meine Kreuzkette anscheinend beim Sprint unter einem Rucksackriemen verklemmt hatte; sie war jedenfalls so tief in meine Haut eingedrückt, dass ich sie mit sanfter Gewalt herausziehen musste. Beim Abendessen und einem Gespräch mit der herzlichen Betreiberfamilie waren aber alle Strapazen vergessen, und beruhigt vom mehr als gestern verdienten Feierabendbier und dem traditionellen Zirbenschnaps ging es wieder in einen tiefen Schlaf.


Dieser Artikel ist Teil einer spannenden Serie über Dominiks Alpenüberquerung. Seid gespannt auf den letzten Teil dieses Artikels am 29. April 2020.


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