So weit die Füße tragen – Eine Wallfahrt, die es in sich hat

Unsere Bundesbrüder Bobo und Pyro berichten:

Überlegt mal kurz: was war die längste Strecke, die ihr jemals an einem Tag zurückgelegt habt? Waren es 15 Kilometer bei einem gemütlichen Spaziergang, 21 Kilometer bei einem Halbmarathon oder 40 Kilometer bei einer ausgedehnten Wanderung? Nun, die wenigsten von euch werden jemals mehr als 60 Kilometer am Tag absolviert haben. Für Jeremiasz und mich galt es am ersten Maiwochende, diese Marke zu pulverisieren: Das Ziel lag bei nicht weniger als 100 Kilometern Wanderung in 24 Stunden.
Wer sich jetzt fragt „Wie kommt man auf sowas?“ – keine Ahnung. Aber es gibt diverse organisierte Gewaltmärsche, die sich genau diese Strecke zum Ziel setzen. Wir waren mit der Gruppe „Adventure & Faith“ unterwegs, die eine Reihe an außergewöhnlichen Abenteuern anbietet, aber immer mit Bezug zum christlichen Glauben. In diesem Fall war die Strecke die „Via Sacra“, die Wallfahrer-Route von Heiligenkreuz nach Mariazell (der bedeutendste Marienwallfahrtsort Österreichs). Normal wird diese in drei Tagen absolviert, manchmal auch in zwei – und wir machens halt einfach mal an einem. Im Folgenden bekommt ihr eine kleine Zeitleiste dieses Irrsinns.

6:30 Uhr– Treffen in Wien. Die Leute sind alle gut drauf und entspannt. Gegenseitiges Kennenlernen, Erfahrungsaustausch, gut gemeinte Tipps prägen die halbe Stunde zum Einfinden. Ein Pater spendet uns den Reisesegen, danach geht es per Autoshuttle nach Heiligenkreuz.

7:45 Uhr – Stärkung vor dem Abmarsch. Wir stehen vor dem Eingang zum Stift Heiligenkreuz, wo wir mit Bananen und Schokoriegeln versorgt werden. Ein paar Gedanken zum Weg, dann geht es auch schon los. 28 junge Menschen setzen sich in Bewegung, fröhlich und voller Energie. Die ersten Kilometer legen wir in einem außerordentlichen Tempo zurück.

8:50 Uhr – das erste Warten. Die vordere Gruppe ist mit der Wucht einer Dampflok eine heftige Steigung hochgerast, wobei einige weiter hinten den Anschluss verloren haben. Wir bleiben im Hang stehen, um sie aufschließen zu lassen. Jedem ist inzwischen warm, jeder ist immer noch gut drauf. Die ersten fünf Kilometer sind rum.

10:23 Uhr
– es wird heiß. Die Sonne brennt von einem leicht bewölkten Himmel, wir sind nun eher exponiert statt im Wald unterwegs. Erste Gruppen bilden sich, unsere Einheit zieht sich in die Länge.

12:05 Uhr – wir übertreiben es. Ich bin in einer Vierergruppe recht weit vorne unterwegs. Laut Plan hätten wir um 12 Uhr in Kaumberg sein sollen, aber wir hatten ein paar Verzögerungen. Etwa 600 Meter vor dem Ortschild frage ich, ob wir nicht einen kleinen Sprint einlegen wollen. Übermütig laufen wir los und holen am Ortsschild tatsächlich eine Joggerin ein, die vorher noch uns überholt hatte. Nebeneinander laufend erzählen wir ihr, was wir vorhaben und ernten dafür einen dezent erstaunten Blick.

12:35 Uhr – die erste Rast. Oberhalb Kaumberg kehren wir auf dem Parkplatz einer Kapelle ein. Es gibt Wasser, Sirup, Bananen, belegte Semmeln, Riegel und Energy Cake – alles entweder zum gleich Essen oder als Proviant. Gut 22 Kilometer liegen nun hinter uns. Die Stimmung ist immer noch sehr gut, auch wenn es die schon ersten Teilausfälle gibt. Die ersten Blasen müssen versorgt werden.

13:00 Uhr – der zweite Abschnitt. Unser Weg führt uns über etliche Hügel, durch Wäldchen, Kuhweiden, kleine Dörfer; alles eingebettet in eine wunderschöne Landschaft. Die Sonne bringt uns ordentlich zum Schwitzen, aber ein leichter Wind sorgt für Erträglichkeit. Jeremiasz und ich bilden die Nachhut, weil wir einen Mitpilger mit heftigen Adduktorenproblemen nicht zurücklassen wollen. Wir leiden mit ihm, können ihm aber nicht helfen. Da wir mitten in der Natur unterwegs sind, muss er sich bis zur nächsten Straße durchbeißen. Gut vier Kilometer muss er sich mindestens noch weiterschleppen, bis endlich eines der Transportfahrzeuge dasteht.

15:10 Uhr – kleine Pause. Das Transportfahrzeug versorgt uns nochmal mit der gleichen Auswahl wie beim Mittagessen. Wir werden von einer Drohne gefilmt, es fallen blöde Sprüche – und die Stimmung ist immer noch top.

15:31 Uhr – es wird gesungen. Einer hat seit dem letzten Stop seine Gitarre dabei. Unter anderem trällern wir „500 Miles“. Einige Anwohner aus den Dörfern schauen uns an, als ob wir von einem anderen Planeten kommen würden.

16:05 Uhr – der Zug zieht sich in die Länge. Wir sind entlang der Göls unterwegs, der Himmel ist inzwischen ziemlich bewölkt. Einigen merkt man schon deutlich die Strapazen an. Trotzdem sind immer noch Zwischensprints drin.

16:40 Uhr – es gibt nochmal eine kurze Rast. Auf dem Abschnitt vor uns wird es nun für viele Kilometer keine Möglichkeit zum Abholen geben. Wieder geben ein paar auf und setzen sich ins Auto.

17:50 Uhr – nun eine ungeplante Rast. Hinter uns liegt ein heftiger Anstieg über mehrere Kilometer, der für zwei Mitstreiter zu viel war. Da sich die Gruppe extrem auseinandergezogen hat, haben sich zwei weitere verlaufen und müssen erst wieder zu uns dirigiert werden. Der Rest der Gruppe liegt auf einer Lichtung. „Doping“ in Form von Magnesium, Schmerzmitteln, Cola und Schokolade macht die Runde. Irgendwie hat Johannes, unser Guide, es geschafft einen Transport für die zwei Ausgefallenen zu organisieren – sie werden mit einem Jeep abgeholt.

18:27 Uhr – wir sind auf einem Höhenrücken unterwegs, von dem aus man einen wunderbaren Ausblick hat. So gut wie jeder bleibt stehen, um ein Foto zu machen oder einfach nur zu staunen.

19:06 Uhr – diesmal eine geplante kleine Pause. Wir sind an einem Fluss und gönnen uns nochmal Bananen.

19:27 Uhr – der letzte große Anstieg vor Lilienfeld. Johannes ist immer noch in der Lage, vom Gruppenletzten wieder nach vorne zu sprinten. Wir durchqueren einen bergigen Wald, auf den ein mäßiger Abstieg folgt.

20:05 Uhr – die zweite große Pause. Wir sind im Stift Lilienfeld. Hinter uns liegen nun 55 Kilometer – was heißt, dass wir noch fast die Hälfte der Strecke vor uns haben. Zur Stärkung gibt es warmes Gulasch. Blasenpflaster werden geklebt, Magnesium und Schmerzmittel genommen. Die meisten der Teilnehmer stehen inzwischen bei ihrem persönlichen Marschrekord.

20:45 Uhr – Leuchtbänder werden verteilt. Jeder bekommt vier Stück, die an Handgelenken, Rucksack, Schnürung oder Hose befestigt werden. Als wir draußen stehen, sehen wir aus als würden wir auf einen Rave gehen. Es ist während des Essens völlig dunkel geworden und merklich abgekühlt. Die Stimmung wird langsam ernster, aber es wird immer noch genug gelacht.

22:45 Uhr – wir sind die ganze Zeit entlang der Treisen unterwegs. Außerhalb der Dörfer ist es stockfinster, nur unsere Leuchtbänder und Stirnlampen flackern durch die Nacht.

23:31 Uhr – wir hören Musik. Einer der vorderen hat eine Boombox laufen, auf der epische Filmmusik spielt. Unser Weg ist ein stetig ansteigendes Asphaltband, das nach links von Felsen begrenzt ist, während uns rechts nur ein paar Bäume vom Fluss trennen. Einige haben inzwischen massive Schmerzen.

23:45 Uhr – es gibt eine kurze Stärkungspause. Mentos werden ausgeteilt, Koffeintabletten machen die Runde. Für viele ist inzwischen klar, dass sie noch maximal bis zum nächsten Versorgungspunkt durchhalten können. Diejenigen, die noch Kraft haben, motivieren die anderen; der Zusammenhalt steigt mit jedem gegangenen Kilometer.

0:35 Uhr – etwas Lockerung fürs Gehirn. Wir diskutieren über römische Dichtung und die griechische Übersetzung des Vaterunser. Egal um was sich das Gespräch dreht, es lenkt einen ab von den Beschwerden und der Aussicht, nochmal acht Stunden durchhalten zu müssen. Ich denke an meine Kumpels, die um diese Zeit beim Feiern sind und frage mich, ob ich nicht lieber bei ihnen wäre. Die Antwort ist aber klar.

1:10 Uhr – es geht ins Gelände. Nach ein paar weiteren Ausfällen sind wir auf einem Pfad neben der Treisen unterwegs, der schon bei Tag gefährlich ist. Kaum breit genug für einen Menschen schlängelt er sich an einem steilen Abhang entlang. Die Stirnlampen sind jetzt überlebenswichtig. Als sich der Wald etwas lichtet, breitet sich über uns ein wunderschöner Sternenhimmel aus.

1:56 Uhr – eine kleine Rast an einem einsamen Haus am Wegrand. Von hier aus müssen wir noch ein paar Kilometer auf der Straße gehen, bevor der steilste Berg des ganzen Weges kommt. Jeder hat Respekt vor diesem Anstieg, jeder muntert den anderen auf. Ich versuche, einer Mitstreiterin einen Krampf aus dem Knie zu massieren damit sie es packt. Während der kurzen Rast wird es extrem schnell kalt. Inzwischen haben wir etwa 75 Kilometer hinter uns.

2:40 Uhr – die Teerstraße will und will einfach nicht aufhören. Seit anderthalb Stunden sind wir auf der gleichen Straße unterwegs, die sich unaufhörlich und stetig bergauf durch einen Wald schlängelt. Nirgends gibt es Abwechslung. Viele sind inzwischen wie in Trance. Für Kilometer hängt der Blick auf dem Randstreifen, dem wir folgen. Ein kalter Wind weht durch die Trasse. Ich denke wieder an meine feiernden Freunde…

3:07 Uhr – wir sind vor dem Anstieg. Viele Höhenmeter über uns sieht man Annaberg leuchten, den Ort unserer letzten Rast. Wir können unsere Rucksäcke mit dem Auto hochfahren lassen, aber nur wenige gehen auf das Angebot ein. Drei von uns sind am Ende ihrer Kräfte, aber ihr Wille ist ungebrochen. Jeder weiß, dass ihn zur Not die anderen ohne Zögern diesen Berg hochtragen würden, seien sie auch noch so fertig.

3:20 Uhr – die Hälfte des Anstiegs ist geschafft. Halb außer Atem singen wir „Großer Gott, wir loben dich“. Niemand denkt auch nur ansatzweise daran, stehenzubleiben.

3:34 Uhr – Einzug in Annaberg. Alle Verbliebenen haben den Anstieg geschafft. In einem Raum der Gemeinde gibt es nochmal Gulasch, Semmeln und Tee. Nun haben wir „nur“ noch etwa 18 Kilometer vor uns. Nach wie wenig das auf einmal klingt.

4:19 Uhr – während dem Abstieg passieren wir ein Schneefeld. Die elf letzten Pilger (zwei Frauen, neun Männer) stapfen zwar stiller, aber immer noch motiviert durch die schwindende Nacht.

5:10 Uhr – es wird langsam hell. Leider ist der Himmel völlig bewölkt, sodass uns kein schöner Sonnenaufgang vergönnt ist.

5:45 Uhr – es geht noch einmal steil einen nicht enden wollenden Hang hinauf. Bei den meisten hat inzwischen der Körper kapituliert; sie werden nur noch vom Willen vorwärtsgetragen.

6:00 Uhr – eine kurze Rast mit Tee und Bananen auf der Hügelkuppe. Einer der Pilger schleppt sich erst mit gehörigem Rückstand heran, legt sich wie tot auf den Boden und steht beim Abmarsch wieder auf. Unser verbliebener Abschnitt sieht so aus: vier Kilometer Marsch, Frühstück, vier Kilometer Endspurt nach Mariazell. Nur noch acht Kilometer… das Ziel rückt in immer greifbarere Nähe.

6:20 Uhr – die letzten Kilometer haben es in sich. Es geht die meiste Zeit bergab, was unsere Knie und Oberschenkelmuskeln böse malträtiert. Inzwischen ist jeder wie in Trance, wobei das Bewusstsein für die Umgebung, aber auch für die Schmerzen sinkt.

7:20 Uhr – Frühstück. An einem Dorfweiher werden wir mit Tee und Joghurt versorgt. Lebensgeister kehren zurück. Nur noch vier Kilometer… Theoretisch könnten wir bei sofortigem Abmarsch sogar die 24 Stunden noch packen, aber das ist inzwischen fast jedem egal. Beim Losgehen schleppen wir uns die ersten Meter wie Zombies voran, bis die Muskeln wieder in ihren Trott verfallen.

7:55 Uhr – die 100 Kilometer sind geknackt. Wir warten auf einer Hügelkuppe, da sich die Gruppe wieder auseinandergezogen hat. Niemand will jemanden zurücklassen. Aus den Tiefen des Körpers ziehen manche noch Reserven und hüpfen durch die Gegend.

8:30 Uhr – die Abbrecher kommen an. Während wir einen letzten Hügel hinaufgehen, überholen uns hupende Autos mit jubelnden Menschen darin. Aus einem dröhnt „We are the champions“. In einer Haltebucht auf dem Hügel steigen ein paar aus und klatschen uns ab. Direkt vor uns ist Mariazell zu sehen.

8:40 Uhr – wir sind angekommen. Nach über 100 Kilometern, über 3300 Höhenmetern (also ungefähr eine Besteigung des Montblanc vom Tal aus!) und mehr als 20 Stunden reiner Gehzeit passieren wir das Ortsschild von Mariazell. Die elf, die es bis zum Schluss durchgezogen haben, werden frenetisch empfangen. Umarmungen, Abklatschen, ein Gruppenbild, dann ziehen wir weiter zur Kirche.

8:50 Uhr – wir sind auf dem Kirchplatz. Pünktlich zu unserem Zieleinlauf fängt es an, zu regnen. Eine krasse Mischung aus Gefühlen überwältigt uns, während sich gleichzeitig der Körper zurückmeldet.

10:00 Uhr – in der Kapelle feiern wir eine heilige Messe. Das Aufstehen ist jedes Mal eine Qual, aber nur wenige lassen sie sich anmerken. Die kleine Treppe zur Kapelle wird beim Hinausgehen zu einem Hindernis, das für einige lustige Videos sorgt – eine Zombie-Invasion könnte nicht besser aussehen. Auf dem Weg zum Gasthaus bewegen sich nun einige nur noch im Schneckentempo vorwärts.

12:30 Uhr – es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Nach einem guten Mittagessen und dem verdientesten Bier aller Zeiten trennen sich nun die ersten Wege. Mit Autos werden wir entweder nach Wien zurückgebracht oder zum Bahnhof. Herzliche Verabschiedungen überall – diese unmögliche Tour hat die Gruppe in einer Form zusammengeschweißt, die man nirgendwo anders finden könnte. Jeder ist bis an seine Grenzen gegangen, und manche weit darüber hinaus. Jeder nimmt viel für sich mit aus diesem Wochenende – hauptsächlich aber wahrscheinlich einen heftigen Muskelkater und Blasen.

23:40 Uhr – nach einer von der Deutschen Bahn gesponserten Odyssee liege ich endlich in meinem Bett. Die Sitzerei im Zug, das Stehen und die Umstiege an den Bahnhöfen waren eine Qual, die schlimmer ist als die letzten Kilometer Marsch. Die Bilanz meiner Füße sieht aber gar nicht mal so schlecht aus: drei Blasen und drei an der Oberseite wundgescheuerte Zehen. Bei Jeremiasz sind es sechs vernachlässigbare Blasen. Erstaunlich, was der menschliche Körper so aushält!

Wer sich nun am Anfang gedacht hat „Das ist doch völlig verrückt!“ – ja, das ist richtig. Kein normaler Mensch würde auf die Idee kommen, einfach mal so spontan 24 Stunden durchzumarschieren. Was aber unser Schlüssel zum Erfolg war, ist die Gemeinschaft. Oft genug war der Satz zu hören „alleine hätte ich das niemals geschafft“. Sooft es ging haben wir uns gegenseitig aufgeholfen, Mut zugesprochen, Proviant und „Doping“ geteilt, haben uns mit Gesprächen abgelenkt oder versucht, unsere Erschöpfung vor den anderen zu verstecken, damit sie nicht entmutigt werden. Jeder hat zu einem anderen Zeitpunkt seine Belastungsgrenze erreicht, und so manch einer hat sich die Hälfte der Strecke nur noch mit bloßem Willen und einer gehörigen Dosis Gottvertrauen weitergequält. Wer das nicht selber erlebt hat, wird niemals verstehen was für ein Gefühl das ist. Und wie immer gilt am Ende der Satz: Woher willst du wissen, dass du etwas nicht kannst, wenn du es nie versucht hast?


In der Rubrik „Alte Herren berichten…“ widmen wir uns den Lebensereignissen der Alumni unserer Studentenverbindungen.
Ganz nach unseren Prinzipien, bleiben wir auch nach dem Studium im engen Kontakt. Ein Lebensbund.