Der pure Wahnsinn – Festivals…

Es gibt Orte auf dieser Welt, die ein zivilisierter Mensch am liebsten nie betreten würde: den Reaktor von Tschernobyl, ein nordkoreanisches Arbeitslager, ein Auffanglager im Sudan – oder ein Festivalgelände. Und zwar ein richtiges Festivalgelände. Es gibt nur einen Unterschied: im Gegensatz zu den vorher genannten Orten sind die Menschen freiwillig dort. Und das ist es, was das Ganze wirklich sonderbar macht.

Um zu verstehen, wieso jedes Jahr Hunderttausende von Menschen jeglicher Alters- und Berufsgruppen teilweise mehrere hundert Euro zahlen, um ein paar Tage ohne jegliche Körperpflege unter freiem Himmel zu verbringen, muss so etwas einmal mitgemacht haben. Es muss nicht gleich ein völlig abgehobenes Ding wie das Tomorrowland oder das Burning Man sein, für den Anfang reicht eines der gemischten bis harten Festivals.

Mein Liebling ist das Nova Rock in Nickelsdorf. Falls das dem einheimischen Berliner nichts sagt: kein Problem. Nickelsdorf liegt 709 Kilometer südlich des Alexanderplatzes, an der österreichisch-ungarischen Grenze. Diese Gegend ist dem gewöhnlichen Touristen eher durch den Neusiedler See, den Wein und die Pannonische Steppe bekannt – oder halt durch das „Nova“. Nüchtern (also im Nachhinein) betrachtet klingt es völlig irrsinnig, deshalb extra aus Berlin dorthin zu fahren – noch dazu, weil dort im Normalfall die Sonne theoretisch mit über 30 Grad im Schatten herunterbrennen würde. Theoretisch deshalb, weil es keinen Schatten gibt. Und trotzdem bin ich wie jedes Jahr seit dem Abi wieder in diesen Wahnsinn gefahren – Traditionen müssen einfach gepflegt werden.

Schon auf der Anfahrt über einen kleinen einspurigen Wirtschaftsweg lernt man den neben der Sonne größten Feind für die nächsten Tage kennen: Staub. Da das Gebiet eine eher trockene Steppenlandschaft ist, wird jeder einigermaßen genutzte Weg innerhalb kürzester Zeit zur ausgiebigen und nicht enden wollenden Staubquelle. Selbst Nichtraucher haben nach dem Festival daher die Lunge eines alten Bergarbeiters.

Auf dem Parkplatz und bei der Bändchenausgabe bzw. dem Einlass wartet Feind Nummer drei: die Securities. Von denen gibt es drei Arten; die völlig überforderten, die übergenauen, und die lmaA-Fraktion, denen alles egal ist. Dankenswerterweise waren unser Einlassmensch und unser „Haus-Security“ (werden an jeder größeren Dixikloansammlung positioniert, um ein Umwerfen derselben zu verhindern) eher Vertreter der letzteren Gattung, was unseren Aufenthalt wesentlich lustiger gestaltete. Dank langjähriger Erfahrung waren wir mit allen möglichen praktischen, aber theoretisch verbotenen Utensilien ausgerüstet: Tische, Pavillons, eine eigene Soundbox mit zwei Autobatterien, ein Fahnenmast, ein Gaskocher, das Zubehör für eine anständige Goasmass (bayerisches, gülleartig aussehendes Getränk) und die übliche Campingausrüstung (Zelte, Junkfood, Stühle und eine Jahresration Billig-Dosenbier). Nicht vergessen darf man natürlich unseren Spezialgast „Trichter Alexander Hold“, welcher uns noch viel Spaß bereiten sollte. Die letzten beiden Sätze mögen sich ein bisschen asozial und unzivilisiert anhören, aber es gibt eine Grundregel, die man auf einem Festival immer beachten sollte: immer einen Alkoholpegel zwischen 0,5 und 1,0 Promille halten. Während Werte darüber nur für die anderen lustig sind, sind Zustände des „Unterbieres“ akut launebedrohlich. Dann realisiert man nämlich, wie asozial eigentlich diese ganzen Menschen, die Umgebung und man selbst ist. Und vom nüchternen Besuch eines Dixiklos ist ebenfalls dringend abzuraten!

Nach dem Finden eines geeigneten Zeltplatzes (außerhalb der Windrichtung der Klos, in keiner Senke, etwas abgelegen vom Hauptweg, nah genug an Klos und/oder Essensständen, mit möglichst „anständigen“ Nachbarn) wird erst einmal die Wagenburg der eigenen Zelte errichtet, mit den Nachbarn ein gemeinsamer Müllplatz definiert (meistens campiert man eh auf dem vorherigen), ein Trichter gezogen und die Fahne gehisst. Diese ist im weiteren Verlauf lebenswichtig. Ich erinnere mich noch gut (beziehungsweise stundenlang gar nicht) daran, als ich an meinem allerersten Tag auf einem Festival den Fehler gemacht habe, mit Ungarn ein nicht weiter definierbares Zeug aus Plastikflaschen zu trinken und danach stundenlang mein Zelt gesucht habe. Der dabei eingefangene Sonnenbrand hat drei Tage lang im Dunkeln geleuchtet. Deshalb: Zelt markieren und Wegmarken einprägen, die auch im Dunkeln funktionieren. Nach diesen ersten Schritten lernt man erstmal die Nachbarn kennen, und das Festival kann beginnen.

Ein durchschnittlicher Festivaltag läuft folgendermaßen ab: nach einer Nacht mit kaum Schlaf (dank Scheinwerferlicht ist es durchgehend taghell, und Ruhe kehrt nie ein) wird man spätestens um sechs Uhr morgens wach. Die weiteren Versuche, Schlaf zu finden, sind durch zwei Dinge von vorneherein zum Scheitern verurteilt: zum einen dauerquasselnde Nachbarn, und zum anderen die Sonne. Die zählt ja bereits als Feind. In der frühen Morgensonne erreicht ein durchschnittliches Zelt bereits vor acht Uhr Temperaturen, bei denen man es freiwillig verlässt. Schon beim Verlassen des Zeltes greift die geübte linke Hand das im Vorzelt lagernde Bier, während die Rechte den Campingstuhl greift. Mit diesen beiden Utensilien sowie einer Kopfbedeckung ist man für den Morgen bestens gerüstet. Je nach Aktivität der Mitstreiter oder Nachbarn folgt nun entweder ein tiefgreifendes Gespräch über das Johannesevangelium, ein Trichter, ein Weckruf mit der 1000-Watt-Anlage an den übrigen Campingplatz oder das gemütliche Konsumieren diverser Dosenbiere. Nach einiger Zeit fällt einem auf, dass schon Mittag ist, man eigentlich auch mal Zähne putzen könnte (nachdem man das in der Nacht zuvor auch schon unterlassen hat) und eigentlich auch bald die ersten Bands spielen. Ein gesundes Mittagessen und ein paar Biere später fällt einem ein, dass in zehn Minuten eine interessante Band spielt, und drei Stunden später wacht man plötzlich mit Sonnenbrand, Eddingverzierung und Panzertapefesseln auf und stellt fest, dass die Band bestimmt doch nicht so interessant gewesen wäre. Irgendwann siegt dann doch der Aktionismus und man wagt sich aufs Infield. Das Infield ist so etwas wie der Heilige Boden eines Festivalgeländes: hier stehen die Bühnen, die wirklich guten (und deshalb auch sündteuren) Essensstände, das Partyzelt, der Vergnügungspark und und und. Da man hierhin absolut nichts mitnehmen darf, ist es auch vergleichsweise sauber. Wer jemals ein Konzert in einer stickigen Konzerthalle besucht hat, wird die frische Luft zu schätzen wissen – es sei denn, man steht mitten im Pogo einer der härteren Bands. Da greift wieder der alte Feind Staub auf breiter Front an. Den traditionell größten Pogo, die meisten Walls of Death und die meisten Crowdsurfer gibt es auf dem Nova übrigens bei Wendis Böhmischer Blasmusik – und ja, die spielen ganz normale böhmische Blasmusik. So richtig mit Musikantentracht und echten Instrumenten, und in den ersten Reihen treibt sich die alte und junge Dorfbevölkerung herum. Herrlich.

Zurück zu den Konzerten: diese dauern im Regelfall knapp eine bis zwei Stunden, wobei die beiden großen Bühnen gleichzeitig bespielt werden. Schlecht für so manchen Zeitplan, gut für die Fitness. Hier zeigt sich mit zum ersten Mal ein Grund, warum ein Festival eine gute Sache ist: manche Headliner würden alleine an Eintrittsgeld so viel kosten wie das gesamte Festival, man sieht eine große Auswahl an bekannten Bands, und man lernt völlig neue Bands kennen, von denen man so sonst nie gehört hätte. Die Stimmung ist wohl unbeschreiblich, besonders wenn bei manchen Konzerten Zehntausende mitsingen.

Nach dem letzten Konzert und dem darauffolgenden Late-Night-Act ist aber noch lange nicht Schluss: ein großes Partyzelt, eine Partylounge und eine Outdoor-Area locken zum Feiern und Kennenlernen. Das muss ich wohl keinem Berliner erklären. Irgendwann, wenn der Horizont schon langsam wieder Farbe annimmt, trifft man wie durch ein Wunder den Großteil der Nachbarschaft vereint am Tisch bei den Zelten sitzen, gönnt sich noch ein Feierabendbier, und der Tag beginnt von vorne.

Wobei: jeder Tag ist einzigartig. Während sich klassischerweise am ersten Tag die Greenhorns so wegschießen, dass sie drei Tage an den Spätfolgen leiden, ist der zweite Tag eher der Stimmungstag, und am letzten geht die Welt unter: die einen vernichten ihre letzten Vorräte (egal, wie viel sie dabeihatten!), die anderen zünden ihre Zelte an, wieder andere arrangieren sich mit dem zurückgelassenen Material, und der allgegenwärtige Sound explodierender Gaskartuschen erinnert an die Schlacht von Verdun 1916.

Der zweite Tag, wie gesagt, hat es in sich: hier spielen sich die besten Geschichten ab, und die meisten beginnen mit: „Halt mal mein Bier!“ Da werden Prozessionen durchgeführt (mit einer mit Panzertape an ein Kreuz gefesselten Hexe), Ski gefahren, der Papst persönlich tauft mit Hilfe eines Trichters, drei Spartiaten rollen auf einer motorisierten Couch vorbei, es wird Flunkyball im T-Rex-Style gespielt, wildfremde Menschen werden plötzlich diene besten Freunde und es ist eine unbeschreiblich freie Stimmung. Dazu später mehr.

Leider geht ein jedes Festival auch mal zu Ende. Alles, was noch brauchbar ist, wird wieder aufgepackt, die Nachbarn werden verabschiedet, alles, was von den bereits abgereisten noch brauchbar ist, wird aufgepackt, man trifft die Nachbarn noch einmal, alles, was man Brauchbares auf dem Weg findet, wird aufgepackt, man lernt auf den letzten Drücker neue Leute kennen – und plötzlich steht man wieder auf dem Parkplatz. Jetzt beginnt die Lotterie: ist der Security am vorderen Ende der Blechlawine fähig oder nicht? Es ist schon erstaunlich, dass ein einziger Mensch die Pläne von hunderten Gästen so beeinflussen kann. Wenn man es endlich geschafft hat und auch die ewig langen Autobahnkilometer bis zu seiner Heimat hinter einem liegen, gibt es eine typische, festgelegte Reihenfolge der Handlungen: Als erstes besucht man zum ersten Mal seit Tagen ein einsames, stilles, geruchsneutrales, kühles Porzellan-WC. Danach folgt eine ausgiebige Dusche, auch die erste seit Tagen. Zu empfehlen ist die doppelte Behandlung mit Shampoo und Duschgel sowie eine Wurzelbürste gegen Eddingreste auf der Haut. Wenn der eigene Körper soweit gereinigt ist (im Normalfall stellt man fest, dass man doch nicht so braun geworden ist wie vermutet), werden sämtliche getragenen Sachen mit Hygienespüler in die Waschmaschine gegeben – und zwar bevor der eigene Geruchssinn realisiert, dass man das selbst am Leib getragen hat! Nun noch die Ausrüstung putzen, und schon hat einen das normale Leben wieder. Die erste Nacht im eigenen Bett ist eine Erholung der Extraklasse. (Anmerkung dazu: die letzten zwei Jahre zuvor musste ich aufgrund der strikten Urlaubsregelungen meines Praktikums- bzw. Bachelorplatzes direkt nach der Dusche in die Arbeit fahren…).

Jetzt zu der Frage, die den Leser schon seit Beginn begleitet und die vermutlich durch die Schilderung der Vorgänge wesentlich unverständlicher geworden ist: Warum tut man sich diesen Wahnsinn an?

Nun, wie bereits anfangs erwähnt muss man das Ganze einmal selbst erlebt haben, um es verstehen zu können. Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, wo man so frei ist wie auf einem Festivalgelände. Selbst Berlin kann mit dieser ultimativen Freiheit nicht mithalten. Menschen jeder Alters- und Berufsgruppe, jeder Hautfarbe, Herkunft, Orientierung, Geschlecht und was es sonst noch für Unterscheidungsmerkmale in unserer Gesellschaft gibt, sind gleich. Jeder kann sich so benehmen, wie er es in seinem normalen Leben nie tun würde (solange natürlich niemand anders drunter leidet). Alle sind eine große, gut gelaunte Familie, jeder ist Per-Du, jeder ist gut drauf, jeder ist ein potentieller Freund. Selbst in einer von außen äußerst brutal wirkenden Moshpit sind alle sofort hilfsbereit und beschützen sich gegenseitig. Man erlebt an einzelnen Tagen Dinge, die man im bürgerlichen Leben in hundert Jahren nicht erleben würde. Es ist ein gemeinsames Gefühl, welches fast schon wie eine Droge wirkt.

Ich sage immer, auf Festivals kannst du mal für ein paar Tage Urlaub von deinem Leben machen. Mein Ticket für das nächste Jahr habe ich übrigens schon gekauft.

Foto: Alfred Nitsch @ Wikipedia


Pünktlich zur großen Jahreszeit der Festivals berichtet Dominik von seinen Erfahrungen beim Nova Rock.


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