Aus der Welt gefallen

Ja, es gibt viele verrückte Ideen. Und ja, ich habe vor sie alle zu verwirklichen. Diesmal geht es um ein Erlebnis, das sich in Worten nur schwer beschreiben lässt: einen Solo-Fallschirmsprung aus 3600m Höhe aus einer wackeligen kleinen Maschine.

Der Reihe nach: auf meiner Geburtstagsfeier im letzten Dezember waren auch einige Freunde aus Berlin und der Schweiz anwesend, die mir als Gemeinschaftsgeschenk (neben einem riesigen Kuschel-Eisbären…) einen üppigen Gutschein von Jochen Schweizer geschenkt haben – mit dem Kommentar, dass man ja mal Fallschirm springen könnte. Nun, der Gutschein wäre für alles Mögliche verwendbar gewesen, aber allein schon der Gedanke ans Fallschirmspringen hat mich sofort gereizt. Der lange freie Fall, das Schweben über der Welt, der Nervenkitzel – perfekt. Bei der Suche nach dem passenden Erlebnis bin ich dann auf die Überraschung gestoßen, dass es nicht nur die bekannten Tandemsprünge gibt, sondern auf eine Möglichkeit, gleich den ersten Sprung solo zu absolvieren. Ab da musste ich nicht mehr lange überlegen. Sogar ein passender Termin an Fronleichnam, wo ich ausnahmsweise eh Zeit hatte, wurde sofort angeboten, und zwar in Rothenburg ob der Tauber im malerischen Unterfranken. Zack – gebucht! Die fürsorglichen bis entsetzten Blicke meiner Eltern wurden mit einem schelmischen Grinsen und dem Spruch „runter kommen sie alle!“ gekontert. Nun begann der vorbereitende Teil, der einige unerwartete Überraschungen bereithielt: Nach der Bestätigungsmail kam erstmal die Info, dass die Theorie am Dienstag und Mittwoch von 18-22 Uhr stattfindet. Super, das wären jeweils 3 Stunden Fahrzeit einfach… Dank dem freundlichen Ausbildungsleiter konnten wir es aber hindeichseln, dass ich Mittwoch einfach früher komme und wir die Theorie schnell nachholen. Erstes Hindernis beseitigt. Als zweites Hindernis stellte sich die Tauglichkeitsuntersuchung heraus – klingt natürlich sinnvoll, war aber bei meinem Terminplan eine extreme Herausforderung. So kam es, dass ich zwei Stunden, nachdem ich vom Nova Rock heimgekommen war (wo ich fünf Tage lang je etwa drei Stunden Schlaf und genausoviele Promille hatte sowie durchgehend mit Passivrauchen und -kiffen sowie heftigem Staub geplagt war), notdürftig geduscht und mit 2 Energy im Blut nach sechs Stunden Autofahrt beim Doc aufgekreuzt bin. Der Test wäre an sich sehr umfangreich gewesen, aber gottseidank waren noch hervorragende Ergebnisse meiner letzten Atemschutztauglichkeitsuntersuchung vorhanden und ich musste nur ein EKG und einen Lungenfunktionstest ablegen. EKG mit nem Haufen Koffein im Blut und Lungenfunktion mit einer zugeteerten Staublunge, na das kann ja was werden… Als der Doc sich die Auswertung ansieht schaut er mich an, grinst und erklärt ich hätte super Werte. Also entweder haben beide Geräte einen Schaden oder mein Körper ist tatsächlich nicht ganz normal.

Nachdem nun alle Hindernisse beseitigt sind kann es losgehen. Am Mittwoch geht es mittags direkt von der Arbeit in München in das etwa 280km entfernte Oberhausen, ein kleines Dorf mit zehn Häusern. Es hat tatsächlich eine Weile gedauert, bis ich mir auch wirklich sicher sein konnte dass dieses Dorf auch tatsächlich der richtige Ort ist. Hier hat der Fallschirmclub ein Vereinsheim und einen kleinen Unterrichtsraum, den ich trotz Stau und kaputtem Navi nach einer abenteuerlichen Odyssee erreiche (gottseidank gibt’s im Auto noch eine Landkarte…). Nun beginnt der Theorieunterricht. In den ersten zwei Stunden holen wir die Grundsätze des AFF-Programms nach: wie der Ausstieg abläuft, wie der Sprung abläuft, wie ein Schirm überhaupt aufgebaut ist und und und. Danach folgt mit dem Rest der Gruppe das Verhalten bei Problemen, sei es bei der Öffnung des Schirms oder bei der Landung. Obwohl sich das Ganze über sechs Stunden zieht, ist es keine Minute langweilig. Um 22 Uhr heißt es „Auf Wiedersehen“ bis zum nächsten Morgen, um 10 Uhr am Flugplatz Rothenburg. Und für mich: mal wieder eine Nacht im Auto auf einer Wiese, die bis auf ein heftiges Gewitter direkt über Oberhausen ganz gemütlich gewesen wäre.

Nun geht es also zur Praxis. Als ich mit zwei anderen am Flugplatz eintreffe sind schon einige Springer unterwegs – und gleich bei den ersten Landungen denken wir dass der nächste Springer abstürzt. In halsbrecherischer Geschwindigkeit sausen fünf von ihnen über unsere Köpfe hinweg, um in einem halben Meter Höhe über die Wiese zu segeln und erst im letzten Moment zu bremsen. Nachdem das bei allen unfallfrei funktioniert hat muss das wohl die Profi-Variante sein – und tatsächlich erfahren wir kurz darauf, dass es sich bei den Springern um ein Wettkampfteam aus Katar handelt. Diese wagemutigen Jungs sollen an diesem Tag ganze zwölf Sprünge absolvieren, wobei sie sofort nach der Landung mit dem grob zusammengefalteten Schirm in die Packhalle sprinten, einen neuen Schirm aufnehmen und wieder zum Flugzeug laufen. Wir lassen das Ganze aber etwas ruhiger angehen und lernen erstmal unsere drei Übungsgeräte für die nächsten zwei Tage kennen: Die Attrappe, das Brett und den Hänger. Die Attrappe ist ein Nachbau der Cessna 182, aus der später der Sprung starten wird. Vorteil dieses Flugzeugtyps ist, dass er ein Trittbrett und eine Tragflächenstrebe hat und somit eine perfekte Plattform für einen Dreiersprung bietet. Hier werden wir immer und immer wieder die Absprungprozedur üben: „in die Tür!“ – 1 (rechter Fuß aufs Trittbrett) – 2 (linke Hand an die Strebe) – 3 (rechte Hand an die Strebe) – 4 (linker Fuß aufs Trittbrett) – in die Hocke gehen – „Check in!“ (Blick zum inneren Lehrer, OK abwarten) – „Check out!“ (Blick zum äußeren Lehrer, OK abwarten) – „Prop“ (Propeller fixieren) – hoch – runter – ins Hohlkreuz springen.

Auf dem Brett üben wir den Ablauf der Flugphase. Das Brett sieht aus wie ein Instrument aus einem Folterkeller: auf das Fahrgestell eines Bürostuhls wurde ein zugeschnittenes Spanplattenbrett montiert, auf dem man die Flughaltung und den Ablauf üben muss. Bei manchen fallen hier etliche Schweißtropfen auf den Boden, und nach zu vielen Durchgängen wird es tatsächlich zur Folter, seinen Körper für eine bis zwei Minuten ins Hohlkreuz zu zwingen. Noch dazu stehen alle anderen Schüler um das jeweilige „Opfer“ herum und machen den Ablauf im Stehen mit – ein Bild, das doch ein bisschen ans Militär erinnert. Aber es ist sehr wirksam, und bald haben wir die Prozedur fest in unseren Köpfen.

Für die letzte Phase des Sprungs müssen wir in den Hänger steigen, ein Geschirr eines alten Fallschirms, das an der Decke aufgehängt ist. Wir simulieren den Verlauf ab 2000m, also „No more!“, Abwinken, ziehen. Nach dem Ziehen und dem Zählen schauen wir nach oben und der Ausbilder hält uns ein Bild hin, auf dem der Schirm zu sehen ist. Natürlich wäre es auch zu einfach, immer nur einen korrekten Schirm zu checken, weshalb wir alle möglichen Fehlöffnungen gezeigt bekommen und wie wir darauf reagieren können. Im Sprung kann uns ja an diesem Punkt keiner mehr helfen. Auch die Auslöseprozedur für den Reserveschirm machen wir immer wieder durch, um sie auch sicher zu beherrschen.
Während unseres Trainingstags kommen immer wieder verschiedene andere Springer, Springlehrer und Angehörige vorbei. Der Fallschirmspringerclub ist eine einzige große Familie, das merkt man sofort. Auch die Katarer schauen amüsiert zu uns herüber, wenn sie gerade für ein paar Minuten am Boden sind. Wenn wir gerade draußen stehen, können wir wieder halsbrecherische Landeaktionen beobachten, sowie die Tandemflüge. Die Tandemspringer werden ebenfalls in der Halle eingekleidet und unterwiesen, bevor sie an der Attrappe den Ausstieg üben. Nur die Landung ist bei ihnen nicht ganz so grazil, da der Tandemmaster immer auf dem Hintern landen muss.

Nach fast acht Stunden haben wir endlich Feierabend. Gerade zum Ende hin war das Training eine mehr geistig als körperlich anstrengende Tortur – aber eine sinnvolle. Franz, der Seniorchef, meinte anfangs zu uns, dass wir morgen Muskeln spüren werden, von denen wir noch nicht einmal gewusst hätten dass wir sie haben. Da bin ich mal gespannt – eine fast ähnliche Rückenübung mache ich seit Jahren im FCC-Training. Jetzt heißts aber erstmal Kraft tanken, also lasse ich mir eine gute Wirtschaft in einem Nachbardorf empfehlen und genieße dort ein kühles Zwickl-Bier und ein knuspriges Schäufele (die fränkische Version einer Schweinshaxe – nur aus der Schulter), wobei aber ständig das Unterrichtshandbuch auf dem Tisch liegt. Danach geht es in die malerische mittelalterliche Altstadt von Rothenburg ob der Tauber, wo um diese Zeit dankenswerterweise auch nicht mehr sooo viele asiatische Touristen rumlaufen. Als Luxushotel dient mir wieder das Auto, diesmal direkt auf dem Parkplatz des Flugplatzes. Da auch einige Springer und ein Lehrer dort übernachten verbringen wir noch einen gemütlichen Abend vor dem Manifest, dem Anmeldecontainer. Später im Auto denke ich noch einmal über den Tag nach. Seltsamerweise bin ich überhaupt nicht aufgeregt darüber, dass ich morgen aus dreieinhalb Kilometern Höhe springen werde. Das Training hat also gut gefruchtet.
Ein weiteres Gewitter in der Nacht hat zwar meinen Schlaf in kurze Abschnitte zerpflückt, aber dafür auch die Wolken vom Himmel gefegt. Es verspricht ein perfekter Sprungtag zu werden. Schon zum Frühstück mit den anderen Campern kommt die Sonne heraus. Bald kommen auch die ersten Springer. Als die anderen Sprungschüler da sind, wird die Cessna aus der Halle gerollt und gecheckt. Für uns heißt es mal wieder: Attrappe, Brett, Hänger. Den ganzen Vormittag über wiederholen wir den Stoff von gestern, der sich über Nacht tief in unsere Köpfe geprägt hat. Langsam geht es in Richtung Ernst: wir gehen gemeinsam auf die Landewiese, werden in den Spielraum (wo wir im Gleitschirmflug Höhe abbauen) eingewiesen sowie in die Orte für unseren Landeanflug. Zudem lernen wir ein paar grobe Orientierungsmöglichkeiten. Als wir wieder in der Halle sind wird jedem von uns ein passender Helm zugeteilt, ein dazugehöriger Höhenmesser, eine Brille und ein passender Fallschirm. Dann geht es in die Kleiderkammer, wo einige lustige Überraschungen auf uns warten. Leider passt der rosa Anzug keinem von uns…

Zu Mittag gibt es Kleinigkeiten von einem lokalen Metzger, ideal für unser Vorhaben. Die ersten Tandemspringer heben mit der Cessna ab und landen etwa zwanzig Minuten später auf der Wiese auf ihrem Hintern. Dann geht es auf einmal Schlag auf Schlag: ein Zeitplan wird aufgestellt, und ich soll der zweite Springer sein, aber mit einer dreiviertel Stunde Abstand zum ersten. Als er sich ausrüstet und nochmal mit Ausrüstung den Ablauf auf dem Brett durchgeht, schaue ich mit Adlerblick nochmal zu, um mir alles einzuprägen. Dann geht er in Begleitung seiner zwei Begleitlehrer zum Flugzeug und sie üben nochmal den Absprung mit laufendem Motor. Wir rufen ihm noch „Glück ab!“ hinterher, dann steigen sie ein und fahren auf die Startbahn – und schon schweben sie wie in Reinhard Meys Lied der Sonne entgegen. Obwohl ich in Gedanken jeden seiner Schritte mitgegangen bin, keimt immer noch keine Aufregung in mir auf. Eine langsame Viertelstunde später hören wir über Funk, dass sie gleich aussteigen werden. Wir schauen nach oben und erspähen einen klitzekleinen Punkt, aus dem sich bald ein Pulk von drei weiteren kleinen Punkten nach unten entfernt. Sie sind fast direkt in der Sonne, sodass das Beobachten schwerfällt, doch bald sehen wir drei Schirme aufgehen. Da die beiden Lehrer kleinere Schirme haben und entsprechend schnell zu Boden gehen können wir bald Tim identifizieren. Er fliegt sehr gut im Spielraum, obwohl anscheinend die Funkverbindung nicht funktioniert. Lediglich beim Landeanflug kommt er viel zu nah über uns, dreht dann ab und muss beim Aufsetzen ein gutes Stück rennen. Als er mit dem Schirm unter dem Arm zurück zu uns kommt applaudieren wir alle und fragen ihn sofort aus. Da nimmt mich Matthias, mein Haupt-Begleiter, an die Seite und erklärt, dass ein Tandem ausgefallen sei und ich mich fertig machen solle. Nun geht es also unaufhaltsam zur Sache…

Nach dem obligatorischen „Angstpinkeln“ gehe ich völlig ruhig zur Halle, ziehe die Hose aus und den Sprunganzug an, lege meine Kreuzkette ab (ein Zeichen?) und schlüpfe in den Fallschirmrucksack. Matthias ist schon fertig angezogen und überprüft meine Ausrüstung. Dann lege ich den Höhenmesser an der linken Hand an und es geht noch ein letztes Mal auf das Brett. Der Fallschirm auf dem Rücken macht das Ganze mit seinem Gewicht nochmal eine Spur anders, aber das Programm spult sich perfekt und wie von selbst ab. Auch das Ziehen des Griffs für den Hilfsschirm klappt perfekt – noch. Chris, der an diesem Tag als letzter springen soll, bietet mir seine Handschuhe an, die ich dankend annehme. Dann marschieren wir nochmal zur Attrappe und üben noch einmal den Ausstieg. Ein letztes OK, schon geht es zum Flugzeug, das gerade beim Tanken steht. Nochmal üben wir den Ausstieg, dann startet der Pilot den Propeller, gibt etwas Gas und wir wiederholen das Ganze mit Fahrtwind. Schon mit dieser geringen Drehzahl pustet es mich beim Absprung ordentlich nach hinten. Wir steigen ein, die Tür wird geschlossen, und wir rollen zur Startbahn. Da Uwe, der zweite Sprunglehrer, und ich auf der in Flugrichtung rechten Seite gegen die Fahrtrichtung sitzen, kann ich beim Start durch die hinteren Fenster noch einmal auf die Hallen und den Tower des Flugplatzes blicken, wo vom Biergarten der Trattoria viele Menschen zuschauen. Die Startbeschleunigung dieser alten Kiste überrascht mich, und es dauert nicht lange bis wir abheben. Kurz überlege ich, wann ich das letzte Mal in so einem Kleinflugzeug mitgeflogen bin; es muss ungefähr 15 oder noch mehr Jahre her sein. Immer noch spüre ich keine Aufregung, worüber ich mich inzwischen selbst wundere. Hinter uns wird der Flugplatz und die daneben verlaufende A7 schnell kleiner, während links von mir Rothenburg in aller Pracht von der Sonne beschienen wird. Auf dem nun folgenden Steigflug geht Matthias mit mir noch einmal den Ausstieg, den Sprungverlauf und die Landung durch, wobei er mich immer wieder in bestimmten Höhen fragt, was diese bedeuten. Zwischendrin fragt er mich noch einmal sämtliche Handzeichen ab. Alle Antworten fließen wie automatisch aus mir heraus. Nebenbei dringen aus dem bereits eingeschalteten Funkgerät komische Laute und Kinderlachen. Langsam wandern wir immer höher, wobei die Felder und Wiesen unter uns wie in einem langsamen Zoom immer kleiner werden. Die Maschine stinkt und ist wacklig, aber das verstärkt eher das Abenteuerfeeling. Bei etwa 2300m kommen wir in eine der sporadisch am Himmel hängenden Wolken. Matthias geht mit mir noch einmal durch, was wir beim Durchfliegen einer Wolke machen müssen: durchgehend in eine Richtung lenken, sodass man in einer Spirale nach unten aus ihr hinausgleitet. Kaum ist seine Erklärung vorbei sind wir über den Wolken. Wieder wie in Reinhard Meys Lied. Kaum beginne ich, den Ausblick zu genießen, fangen Uwe und Matthias mit dem finalen Check meiner Ausrüstung an. Als ich fertig durchgecheckt bin heißt es Umdrehen und in „Fahrtrichtung“ knien. Der Höhenmesser steht nun auf 3600m. Die Absprunghöhe ist erreicht, jetzt müssen wir nur noch in die Absprungzone. Uwe spricht kurz mit dem Piloten, dann öffnet er die Tür und geht nach draußen. Sofort erfüllt starker Zug den kompletten Innenraum und man versteht kein Wort mehr. Matthias kniet hinter mir und schickt mich vor zur Ausgangsposition. Rechts von mir geht es nun 3600 Meter in die Tiefe…

„In die Tür!“ brüllt Matthias gegen den Lärm des Windes, und ich beginne mit dem Ausstieg. Wie eine Wand schlägt mir die Luft entgegen, als ich mich ein wenig nach draußen beuge. Die rechte Hand zur Tragflächenstütze zu bringen erfordert schon ganz schön viel Kraft – logisch, jeder, der schonmal auf der Autobahn die Hand aus dem Fenster gehalten hat kennt den krassen Luftwiderstand. Auf die Hand folgt der rechte Fuß, wieder gegen Widerstand, und beim linken Fuß muss ich mich schon stark an die Tragfläche klammern. Zuletzt ist die linke Hand dran, dann gibt es kein Zurück mehr. Wir stehen nun also in 3600 Metern Höhe auf dem Trittbrett einer wackeligen kleinen Cessna, klammern uns an deren Tragflächenstrebe und halten dem Wind stand, der mit 120km/h um unsere Körper pfeift. Mechanisch schaue ich nach links und brülle „Check In!“ in den Wind, was nicht mal mehr ich verstehe. Matthias sieht mich an, nickt, und ich wiederhole mit „Check Out!“ bei Uwe. Auch er nickt. Dann schaue ich nach vorne, und für etwa zwei Sekunden übernimmt mein Hirn die Kontrolle. Beim Blick in das unendliche Blau, in dem sich nur am unteren Rand ein paar weiße Flacken finden, der fast unsichtbare Propeller Luft zu uns schaufelt und sich ein Gefühl der Leichtigkeit ausbreitet, bin ich für diesen kurzen, wunderschönen Moment gelähmt. Eine ganze, Stunden dauernde Sekunde genieße ich den Moment, dann dröhnt der Gedanke „Auf geht’s!“ wie ein Befehl durch meinen Kopf und lässt wieder das Programm anlaufen. „Prop!“ – „Hoch!“ – „Runter!“ –„Spriiiiiiiiiiiing!“ brülle ich gegen die Elemente, führe die Bewegungen mechanisch aus und springe letztendlich hoch ins Abenteuer.

Sofort beim Hochspringen werde ich in einem irrsinnigen Tempo nach hinten gerissen und das Flugzeug zoomt aus meinem Blick. Dort, in dem noch für eine Sekunde sichtbaren Metallvogel, steht mein Hirn immer noch auf dem Trittbrett. Die ersten Sekunden des Falls sind so überwältigend, dass sich in mir die vorhergesagte Reizüberflutung abspielt. Es dauert etwa drei Sekunden, bis ich wieder klar denken kann. Anfangs dachte ich, wir würden uns unkontrolliert in alle Richtungen drehen, aber dann realisiere ich Matthias und Uwe neben mir und erkenne beim Horizontcheck, dass wir stabil sind. Start für das Programm: Horizont fixieren – Höhenkontrolle. Der Zeiger des Höhenmessers steht tatsächlich bei den trainierten 3500m, was ich nach links zu Matthias brülle. Er gibt mir das Zeichen, meine Beine weiter zu strecken, und erteilt mir nach zwei Nachbesserungen den Daumen. Uwe hat nun keine Verbesserungen. Also beginne ich mit den drei Scheingriffen, also dem simulierten Öffnen des Fallschrims, die ich in einem schnellen Tempo durchführe. In meiner Wahrnehmung habe ich dabei den Griff tatsächlich in der Hand, später sollte sich allerdings herausstellen, dass ich jedes Mal daneben lag und auch Uwes Hand nicht gespürt habe, der mich dorthin führen wollte. Als wir fertig mit diesem Training der ersten Stufe sind habe ich noch fast 3000m auf der Uhr. Matthias gibt mir nun die Zeichen, dass ich mein Hohlkreuz verstärken soll und auf meine Arme achten. Ich schaue meine Arme an, erkenne aber nicht was er meint, bis beide die Hände leicht nach hinten drücken. Darauf folgt noch ein Zeichen, das ich mehrere Sekunden anstarre bis es Klick macht: „Entspann dich!“. Uwe gibt nach diesen Verbesserungen wieder gleich seinen Daumen. Nun folgt der Teil, in dem ich den Sprung tatsächlich auch wahrnehmen kann. Ich habe noch fast 300 Meter freien Fall bis zum nächsten Zeichen, also versuche ich, meine Sinne auf die Situation einzustellen. Der Horizont bewegt sich leicht und wandert vom unteren Ende des Blickfelds langsam nach oben. Die Sicht ist klar und sehr gut; besser als ich sie je auf einem Berggipfel hatte. Der Wind dröhnt und pfeift um meine Ohren wie wenn man auf der Autobahn mit offenem Fenster fährt. Zugleich spüre ich seinen Widerstand. Ich mache mir bewusst, dass mein Körper gerade mit 180km/h auf die Erdoberfläche zurast und nur vom Luftwiderstand daran gehindert wird, noch schneller zu werden. Tatsächlich kommt es mir in diesem Moment gar nicht wie ein Widerstand vor, eher wie ein weiches Kissen, auf dem wir sanft zu Boden getragen werden. Komischerweise ist das Gefühl im Magen, welches man in Fahrgeschäften beim freien Fall bekommt, in keiner einzigen Sekunde spürbar gewesen. So viele Gedanken und Eindrücke prasseln gleichzeitig auf mein Hirn ein, während ich mechanisch weiter den Höhenmesser verfolge. Als die 2000 durchläuft schüttle ich meinen Kopf und murmele „No more!“ in den Wind. Nochmal vergehen ein paar Sekunden zum Genießen des Eindrucks. Hier wird mir bewusst, dass ich gerade außer diesen Sinneswahrnehmungen keinerlei körperliche Gefühle habe. Kein Herzklopfen ist zu spüren, keine Schmerzen, keine Anspannung, einfach nichts. Bevor ich mich darüber wundern kann steht der Zeiger auf 1700 und ich winke über meinem Kopf ab. Schauen – Greifen – Ziehen – Ziehen? Ziehen? Der Greifball des Hand-Deploys ist weg. Ich greife drei Mal ins Leere bis ich realisiere, dass ich den Ball gar nicht in der Hand habe. Ich schaue zurück auf den Höhenmesser, der nun schon gut unter 1500 steht. Noch einmal versuche ich, den Griff zu erreichen, dann merke ich wie Uwe daran zieht und spüre einen minimalen Ruck. Bevor ich ganz realisiere, was passiert ist, fallen die Beiden an mir vorbei und ich bleibe einfach in der Luft hängen.

Wie beim Absprung kommt auch diesmal mein Hirn nicht mit und fällt einfach weiter. Ich schaukele in den Gurten hängend am Himmel und brauche wieder zwei Sekunden, um klar denken zu können. Endlich kommt mein Geist zurück und wir können mit dem Kappencheck beginnen. Erster Gedanke beim Blick nach oben ist: „Gottseidank!“. Der Check zeigt, dass der Schirm perfekt aufgegangen ist. Ich greife in die beiden Steuerschlaufen, lenke nach links, rechts, bremse und bin wieder normal. So ganz hat mein Verstand noch nicht verarbeitet, was gerade passiert ist, aber es geht ja noch weiter. Ich blicke nach unten und muss mich erstmal orientieren. Auf den ersten Blick erkenne ich gar nichts, außer zwei aufploppenden Fallschirmen weit unter mir. Erst mit etwas genauerem Analysieren des Bodens wird deutlich, dass der Flugplatz hinter mir sein müsste und ich deshalb nichts erkannt habe. Ich drehe eine vollständige Rechtskurve und beobachte den Boden, bis sich der Orientierungssinn wieder einstellt. Gerade als ich fertig bin höre ich Franz´ Stimme aus dem Funkgerät knarzen. Er gibt mir ab diesem Zeitpunkt Anweisungen, wie ich im Spielraum Höhe abbaue und lässt mich verschiedene Kurven fliegen. Wenn er mal längere Zeit nichts sagt, drehe ich selber Runden oder genieße die Aussicht. Der Anflug auf Rothenburg ist unbeschreiblich. Vor meinen lose hängenden Füßen erstreckt sich die mittelalterliche Stadt, deren Türme und Dächer seitlich von der Sonne angestrahlt werden, während die vereinzelten Wolken ein paar Schatten werfen und dem Ganzen eine fast unwirkliche Grafik geben. Ja, es ist sogar ein wenig wie in Assassins‘ Creed. Abgesehen von den optischen Eindrücken höre ich nur das Rauschen des Windes, kombiniert mit dem Flattern des Gleitschirms. Das Einzige, was mich wirklich in der Realität hält, ist der leichte Schmerz oben an den Oberschenkeln, wo zwei Gurte mein gesamtes Körpergewicht halten. Dank Stairrunning bestehen die Oberschenkel (in dem Fall leider) nur noch aus Muskeln, was das Ganze echt unangenehm macht. Dafür bietet der Wind einen sehr angenehmen Widerstand und schmeichelt fast warm um meinen Körper. Über all diesen Eindrücken vergesse ich fast meine Aufgaben und schaue nervös auf den Höhenmesser. Glück gehabt, noch 500m. Eine kleine Drehung später komme ich auf 300 runter und beginne den Landeanflug in Richtung Flugplatz, brav wie besprochen an der Telefonleitung entlang. Die Gebäude kommen schnell näher, und fast will ich zu früh abdrehen, bis ich merke dass noch genug Abstand ist. Also geht es wie geübt bei 200 nach rechts und bei 100 gegen den Wind. Franz steht in einer orangefarbenen Weste auf der Landewiese und lässt mich auf ihn zufliegen. Langsam kommt der Boden näher – und auch Franz. Etwa zehn Meter vor ihm lässt er mich in die „halbe Bremse“ gehen, dann fliege ich direkt über ihn drüber, schätze die Höhe auf drei Meter und gehe in die volle Bremse. Der Schirm bremst ab, ich werde langsamer – und komme fast gerade zum Stehen. Völlig überrascht von dieser Landung wundere ich mich, dass das so perfekt funktioniert hat; es war wie ein sanfter Sprung von einem kleinen Schemel. Während Franz auf mich zukommt sinkt der Schirm hinter mir zu Boden und ich versuche intuitiv ihn um mich herumzuwickeln. Franz gibt mir bereits Anweisungen, wie ich die Seile und den Schirm über die Schultern legen soll. Fertig bepackt gehen wir nun über die Wiese zurück zur Halle. Franz fragt mich ein bisschen aus, ansonsten schweigen wir. Kurz vor den Gebäuden fällt mir etwas Merkwürdiges auf: ich hebe meine linke Hand leicht hoch, begutachte sie und stelle fest, dass sie absolut ruhig ist. Kein Zittern. Auch mein restlicher Körper fühlt sich an als wäre ich gerade eben nur eine Kurzstrecke gejoggt. Langsam frage ich mich, was da falsch läuft in meiner Hypophyse… Junge, du bist gerade aus nem Flugzeug gesprungen!

Als wir über den Warteplatz gehen schauen uns die Tandem-Zuschauer interessiert an, ansonsten juckt unsere Ankunft keinen. Ich gehe allein zur Halle und sehe Matthias und Uwe schon am Schirmpacken. Meine ersten Worte sind „Ich hab‘ echt gedacht ich hätte den Griff in der Hand!“, worauf die beiden grinsend mit „Hey, erstmal Gratulation zum ersten Sprung“ antworten. Matthias lotst mich neben sich, um den Schirm korrekt auszubreiten, dann bin ich das Geschirr los. Blut strömt schmerzhaft zurück in die Beine und lässt mich kurz wieder ein Gefühl des Schwebens spüren. Als ich die Brille abnehme lacht einer der nächsten Sprungschüler, macht ein Foto und zeigt es mir: die Ränder der Brille haben einen knallroten Abdruck um meine Augen hinterlassen. Stück für Stück schäle ich mich nun aus dem Equipment und verwandle mich wieder in einen ganz normalen Zivilisten. Dann kommt Matthias zu mir und sagt, ich solle einen Zettel und einen Stift holen, um den Sprung und meine Eindrücke dazu für das Debriefing aufzuschreiben. Als ich am Biertisch sitze, den Zettel vor mir, ist es, als wäre der Sprung Jahre her. Es ist fast anstrengend, die Sekunden des freien Falls nacheinander durchzugehen und die Abläufe aus eigener Sicht aufzuschreiben. Nach kurzer Zeit kommt Uwe dazu, grinst mich an und fragt, wie denn die Scheingriffe funktioniert hätten. Etwas verwundert antworte ich mit „gut?“, bis er mir erklärt, dass ich jedes Mal daneben gegriffen hätte und er auch keine Chance hatte, meine Hand zu führen, weil ich viel zu schnell war. Das erklärt zwar, warum ich beim Auslösen nichts erreicht habe, aber in meiner Wahrnehmung hatte ich tatsächlich das Gefühl, den Ball in der Hand zu haben – und keinerlei Gefühl eines fremden Handgriffs. Matthias kommt hinzu und fragt seinerseits nach den Zeichen, die er mir gegeben hat. Besonders betont er das letzte und erzählt, dass ich viel zu verkrampft gewesen sei. Auch das ist mir nicht im Geringsten aufgefallen, im Gegenteil habe ich mich sogar sehr entspannt gefühlt. Wie man sich zwischen Himmel und Erde doch täuschen kann. Trotzdem gibt es am Ende ein Lob und der Zettel mit den Eindrücken dient als „Akte“ über den Level-1-Sprung. Innerhalb von 30 Tagen könnte ich nun das 2. Level antreten, die „Ground School“ gilt noch fast ein Jahr lang. Es ist schon eine Überlegung wert, aber der Zeitaufwand ist doch enorm.

Mehr oder weniger direkt im Anschluss an die Besprechung wird es Zeit für die Heimfahrt. Schließlich wartet in 280km noch eine SEG-Übung, damit es im Leben ja nicht langweilig wird. Ich verabschiede mich von den anderen Schülern, wünsche ihnen „Glück ab!“ und bedanke mich bei den Lehrern, dann geht es zum Auto. Auf dem Weg dorthin kommen schon die nächsten vom Himmel geflogen. Öfters schweift auf der Heimfahrt der Blick in den blauen Himmel, während das Gehirn versucht die unzähligen Eindrücke in einen zusammenhängenden Film zu verarbeiten. Es ist ein komisches Gefühl der Aufregung und Entspannung, das mit diesem Erlebnis verknüpft ist.

Sollte nun jemand von euch überlegen, das Ganze selbst zu erleben, hier ein paar Tipps: über Jochen Schweizer findet ihr einige Orte, an denen die AFF-Ausbildung möglich ist. Kontaktiert einfach die dort ansässigen Sprungschulen, wann die Ausbildungen sind und bucht dann entweder direkt dort oder über Jochen Schweizer. Wichtig ist vor allem, genug Zeit einzuplanen. Abhängig von Plan und Wetter kann sich das Pensum nämlich ganz schön in die Länge ziehen. Auch solltet ihr möglichst lange vorher mit Rückenübungen anfangen, sonst kann es während der Übungen zur Flughaltung ganz schön anstrengend werden. Ansonsten: traut euch! Es ist auf alle Fälle ein unvergessliches Erlebnis und eine ganz andere Liga als ein Tandemsprung. Mich hat besonders der Gleitflug gereizt, sodass schon bald Paragliding als nächstes Ziel anstehen dürfte. Aber erst geht’s mal wieder zum Rafting und Canyoning… YOLO.

Damit man sich das Ganze besser vorstellen kann, hier ein gutes Video eines AFF Level 1 von SkyDive Hildesheim, allerdings aus einem anderen Flugzeug: YouTube-Video.


Ihr kennt unseren Bundesbruder Pyro schon aus einigen anderen Beiträgen in unserem Blog. Wie gewohnt, gibt es nichts von dem er nicht zurückschreckt. Wir sind schon auf sein nächstes Abendteuer gespannt…


In der Rubrik „Aktive berichten…“ schreiben aktive Mitglieder der Bavaria über gesellschaftsrelevante Themen, über ihre Erfahrungen und geben Ratschläge zu diesen Inhalten.