Über alle Berge – Die Kapitulation
Wider Erwarten zeigten sich beim Aufstehen noch keine Spuren des abendlichen Sprints. Auch die Spuren der unfreiwilligen „Dusche“ waren wieder fast getilgt; alles war einigermaßen trocken und wieder tragbar, nur die Schuhe brauchten noch einmal eine schnelle Nachhilfe mit dem Fön. Die erste Wegstrecke sollte mit dem Bus zum Schlegeisspeicher führen, wohin ich bei der Routenplanung keinen Wanderweg gefunden hatte. Dank des üppigen Frühstücksbuffetts wurde es knapp, zur Bushaltestelle zu kommen, sodass die müden Muskeln erstmal wieder mit einem kurzen Sprint geweckt werden mussten. Die Auffahrt führte auf einer beeindruckenden Straße an steilen Hängen entlang, durch enge Kurven und noch engere Tunnel hoch auf den Stausee, dessen mächtige Staumauer ein krasses Bild bot. Oben angekommen, wartete im morgendlichen Sonnenschein ein wunderschönes Panorama mit den erhabenen 3000ern ringsum und dem türkisblauen See dazwischen. Der ausgeschilderte Weg führte ans Ende des Tales, wo ein wilder Bach eine wieder an „Herr der Ringe“ (diesmal Rohan) erinnernde Landschaft geschaffen hatte. Mächtige Geröllfelder hingen an der Bergen, Findlinge lagen im Talbett, vereinzelte Ziegenglöckchen stimmten mit dem fröhlichen Rauschen des Baches eine wahre „Melodie der Berge“. Trotz des inneren Antriebs, nicht stehen zu bleiben, drehte ich mich ein paar Mal um und versuchte, so viele Eindrücke wie möglich von dieser unberührten Landschaft aufzusaugen. Der weitere Weg ging über einen Geröllhaufen mit teils instabilen Steinen und Felsen, immer weiter Richtung Sonne. Eine dahinter liegende Schotterebene wurde von einer Felswand begrenzt, die sich als Pfitschjoch und damit die Grenze zu Italien herausstellte. Na, wie viele von euch können behaupten, schon einmal zu Fuß durch Österreich und nach Italien gewandert zu sein?
Zwei alte Militärbaracken erinnerten sogleich an die blutige Vergangenheit der Alpengrenze, bevor der Blick in das Pfitschtal wieder Frieden einkehren ließ. Am Ende des sichtbaren Bereichs, der sich bis zu den nächsten Bergen als grünes Tal erstreckte, war auch schon das nächste Tagesziel erkennbar, ein kleiner Ort namens Kematen. Was aber auch erkennbar war: direkt vor mir lag ein steiler Abstieg über mehr als 1000 Höhenmeter, eine wahre Freude für die Knie und die Oberschenkelmuskeln! Ein übersehener Wegweiser verursachte zusätzlich einen Irrmarsch über eine leere Kuhweide, die mit kleinen Blaubeersträuchern, verkrüppelten Latschenkiefern, versteckten Tümpeln und immer wieder steilen Schluchten ein ordentliches Hindernis bildete, bevor ich endlich wieder den eigentlichen Weg finden konnte. Endlich im Tal führte ein Wiesenweg hinaus nach Kematen, wo wieder zur Mittagspause (Mittagessen gab es auf einer Leitplanke) das Tagesziel erreicht war. Nun lag das Endziel in greifbarer Nähe, nur etwa 18 Kilometer sollten mich noch vom Marktplatz in Sterzing trennen.
Diese hatten es aber in sich. Das ständige Bergab, das Gehen auf den nun ausgewiesenen Teerstraßen und die Hitze forderten in Kombination mit den Altlasten der bisherigen Wanderung letztendlich doch noch ihren Tribut und sollten besonders die letzten Kilometer zu einer richtigen Herausforderung machen. Besonders einige auf der Karte nicht erkenntliche Höhenzüge wurden immer mehr zur Qual, noch dazu da der Weg teilweise irreführend beschildert war. Dann, endlich, kam nach unzähligen Kehren und Hügeln das Häusermeer von Sterzing in Sicht und war nach einem weiteren Abstieg um 17:15 Uhr erreicht. Nach drei Tagen war damit das Soll einer Siebentagestour erfüllt. Für diesen Fall hatte ich eigentlich geplant, noch in zwei Tagesmärschen die knapp 80km weiter nach Bozen zu wandern, aber das hätten die wunden Fußsohlen auf den weiterführenden Teerstraßen keinesfalls mitgemacht. Also ging es nach einem kleinen Tiroler Abendessen (wobei auch das Tourmotto „vom Bier zum Wein“ berücksichtigt wurde) mit dem Zug zurück in die Heimat. Erst am nächsten Tag sollte sich die Erschöpfung zeigen, die in Rückenschmerzen, wunden Füßen und einem viertägigen Muskelkater noch einige Zeit anhielt. Diese sollten mich aber selbstverständlich nicht davon abhalten, schon am nächsten Tag wieder zu Hause hinter dem Holzspalter zu stehen! Nichtsdestotrotz war es, selbst nach den Erfahrungen der Wanderung in Norwegen und dem Jakobsweg, eine wunderschöne, einzigartige und beeindruckende Reise.
Wer jetzt selbst Lust bekommen hat: überlegt es euch! Solange man nicht solche Wahnsinnsetappen macht ist die Tour nicht sehr anstrengend und für jeden mit einem kleinen Bisschen alpiner Erfahrung und normaler Kondition gut zu schaffen. Im Routenplan ist die Einkehr in den am Weg liegenden Hütten fest eingeplant, und viele Abschnitte kann man auch mit dem Bus verkürzen. Wenn man sich vorher bereits um Unterkünfte gekümmert hat, reduziert sich auch das Gepäck auf erträgliche 6-7kg (Wasser braucht man nicht viel, da es sehr viele Bäche und Gebirgsbrunnen auf dem Weg gibt). Die teils atemberaubenden Ausblicke, der Frieden der Natur, die Idylle der Bergbauern, nette Gespräche mit anderen Wanderern und das Erlebnis des Wanderns selbst geben einem eine so positive Erfahrung mit, die man an einem überfüllten Mittelmeerstrand wohl nie finden wird. Wie immer gilt: traut euch einfach – die Welt ist voller versteckter Schönheit und voller Abenteuer. Mal sehen, was das nächste wird…
Dieser Artikel ist Teil einer spannenden Serie über Dominiks Alpenüberquerung. Falls ihr den Anfang verpasst habt, folgt einfach diesem Link..
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