Über alle Berge – Zu Fuß über die Alpen

Wohl jeder von euch ist schon einmal auf einen Berg geklettert. Ein etwas anstrengender Aufstieg, belohnt mit einem wunderschönen Panorama am Gipfelkreuz, einem Gipfelschnaps und danach einer gemütlichen Abfahrt mit der Seilbahn. So kennen die meisten Leute die Berge im Sommer. Aber was, wenn man nicht nur diesen einen Berg erklimmt, sondern gleich das ganze Gebirge? Dies kann man auf einer der vielen Alpenüberquerungsrouten, die einen auf allen möglichen Wegen und in allen möglichen Schwierigkeitsgraden über unseren altehrwürdigen Gebirgszug führen. Hier könnt ihr meine Erfahrungen auf einem dieser Wege lesen, der euch einen kleinen Einblick in die Welt der Fernwanderungen geben soll. Um euch nicht mit einem einzigen, endlos langen Text zu erschlagen, ist dieser Erlebnisbericht auf die drei einzelnen Tage aufgeteilt.

Am Anfang der Planung stand bei mir weniger die Frage nach dem Schwierigkeitsgrad solch einer Route, sondern eher nach der Zeit. Bis zu 32 Tage (von Kufstein nach Verona) sind für eine komplette Tour veranschlagt, die dann auch schon mal fast 30.000 Höhenmeter Aufstieg beinhaltet. Andere Routen sind wesentlich kürzer, etwa der bekannte (und völlig überlaufene) Abschnitt von Oberstdorf nach Meran (181km) mit 6 Tagen oder von Berchtesgaden nach Lienz (130km) mit 9 Tagen. Am Ende fiel die Entscheidung auf eine relativ neue, aber schnell bekannt gewordene Route, die sich selbstbewusst „Die Alpenüberquerung“ nennt: Vom Tegernsee nach Sterzing, etwa 110km in sieben Tagesetappen. Die eigens dafür erstellte Internetseite liefert auch gleich ausführliche Wegbeschreibungen und Kartenmaterial, das auf 30 DIN A4-Seiten zusammengestellt meinen Reiseführer bilden sollte. Nun noch das Reisegepäck ausgesucht (nach vier Wochen Jakobsweg weiß man, was man alles zum Überleben braucht) und ab geht’s!

 1. Tag – Überheblichkeit

Mit dem allerersten Zug ging es an einem bewölkten Mittwochmorgen über München zum Bahnhof Tegernsee, von wo aus um 7:15 Uhr der Marsch losgehen sollte. Die frische Morgenluft und das flache Tal bildeten sogleich die perfekte Aufwärmrunde für das, was noch kommen sollte. Nach einer Schleife um den unteren Teil des Tegernsees und durch den Ort Rottach-Egern führte der gut ausgeschilderte Weg aus der Ortschaft hinaus und über einen Waldweg zur Talstation der Wallbergbahn. Auf dem Weg dorthin kamen mir die üblichen Gassigeher entgegen, aber auch ein Pärchen mittleren Alters. Auf ihre Frage, wo ich denn hingehe, antwortete ich ohne groß nachzudenken mit „Bozen!“. Von der Wallbergbahn aus leiteten die Schilder mich durch eine weitere Ortschaft und wieder hinaus in die Natur, wobei mich in einer einzigen Viertelstunde schon drei Gruppen an Fahrradfahrern überholten. Nun war ein erstes Stück Wildnis angesagt: direkt neben einem großen Wildbach, flach ansteigend auf einem Waldweg, ging es immer weiter hinein in die Schlucht und der Sonne entgegen.

Das Tagesziel der ersten Etappe war laut Plan Wildbad Kreuth am Ende des Wildbaches, wo ich noch vor halb elf angekommen bin. Also frisch weiter auf die zweite Tagesetappe, die zum Achensee in Tirol führen sollte. Da der Plan eine Übernachtung an anderen Orten und die Fahrt mit dem Bus vorsieht, ging auch die Wegbeschreibung vom Start an einer etwas entfernteren Bushaltestelle aus. Doch ein unschuldiger Wegweiser zeigte das Zwischenziel, die Blaubergalm, auch über die „Wolfsschlucht“ an – mit der gleichen Zeit, also ab in die Schlucht! Spätestens die Hinweisschilder, wonach man auf dem Weg unbedingt Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und alpine Erfahrung mitbringen sollte, hätten einen normalen Wanderer dieser Überquerung abhalten sollten, für mich als gebürtigen Bayern war das aber wie wenn man für euch am berliner Alexanderplatz ein Warnschild vor Bettlern aufstellen würde. Kurz darauf zeigte sich dann, dass die Schilder durchaus ihren Sinn haben: der Weg ging mehrere Male mitten durch einen steinigen Bach, den Bachlauf hoch und endete dann vor einer fast senkrechten Wand, die es hinaufzuklettern galt. An besonders exponierten Stellen konnte man sich nur mit Hochziehen an einem fest installierten Stahlseil weiterarbeiten; mit dem eigenen Körpergewicht schwer genug, mit fast 13kg auf dem Rücken noch wesentlich schwerer! Schwindelfreiheit war nun tatsächlich überlebenswichtig, denn direkt neben dem „Pfad“ ging es teilweise über hundert Meter steil und ohne Halt in die Tiefe. Doch auch der schwerste Aufstieg hat ein Ende, und bald überquerte ich auf einem Hochplateau die österreichische Grenze und kam zur Blaubergalm. Wer die Vorstellung einer idyllischen Alm aus den Heidi-Filmen hat: hier wird sie ansatzweise erfüllt. Ein Plumpsklo neben dem Stall, Kühe auf der Weide sowie ein paar Schafe und Hühner scharen sich um eine alte Holzhütte mit herrlichem Ausblick. Statt Kaiserschmarrn gab’s für mich hausgemachten Joghurt mit Marillenmarmelade, der intensiv nach Kuh schmeckte und innerhalb kürzester Zeit sämtliche Energiereserven wieder auftanken konnte. Von nun an ging es allerdings erstmal auf einem gut ausgebauten Fahrweg stetig bergab, sodass nach etwa zwei Stunden wieder das Talniveau erreicht war. Irgendwie deprimierend, die ganzen Höhenmeter einfach wieder hinunterzulaufen. 

Statt mit dem im Wegplan angedachten Bus ging es nun, da noch ein Bisschen Kraft in meinen Oberschenkeln übrig war, nochmal über einen Höhenzug gut eine Stunde bis nach Achenkirch, das Tagesziel der zweiten Etappe. Hier war aber Schicht im Schacht: die über 40km durchs Gebirge forderten letztendlich doch ihren Tribut, sodass ich mit dem Bus auf die andere Seite des Sees nach Maurach fahren musste, wo günstige Quartiere zu finden sein sollten. Da ich nicht gewusst hatte, wie viel ich schaffen werde – und im Urlaub generell kein Handy an habe – hatte ich auch nirgendwo reserviert, was nun zu einer fast drei Kilometer langen Odyssee über fünf Pensionen führen sollte (und der Versuchung, in einem gerade entkernten Haus oder einer Ruine zu schlafen), bis ich notgedrungen in einem Vierbettzimmer für mich allein landen durfte. 80€ für eine Übernachtung – von dem Geld hätte ich auf dem Jakobsweg zwei Wochen auskommen können! Nun aber nichts wie Duschen, ein wohlverdientes Bier und ab in die Heia. Trotz der Erschöpfung hielten mich meine Schultern, in denen der Rucksack tiefe Abdrücke hinterlassen hatte, und mein ebenfalls vom Rucksack lädiertes Becken noch eine Zeitlang wach, ehe ich in einen komatösen Schlaf fiel.

Wenn die nächsten Tage auch so laufen, dann wird das nix mit Bozen…


Dieser Artikel ist Teil einer spannenden Serie über Dominiks Alpenüberquerung. Seid gespannt auf die Fortsetzung dieses Artikels am 22. April 2020.


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